Im zweiten Teil der Coaching-Serie erklärt Psychologe und Managementexperte MICHAEL SCHMITZ, worauf es ankommt, wenn wir ambitionierte ZIELE ERREICHEN wollen. Er empfiehlt Routinen, um Wil- lensstärke aufzubauen und warnt vor Fallen allzu extremer Anstrengungen.
Jeder von uns hat Vorsätze, aus denen nichts wird. Die einen nehmen sich immer wieder vor, regelmäßig Sport zu treiben, andere möchten sich das Rauchen abgewöhnen oder weniger Süßigkeiten essen – und es gelingt irgendwie nicht, während sie sonst vieles voranbringen, erfolgreich sind im Beruf und sich gut durch’s Leben schlagen. Das zeigt: Ambitionen sind gut. Sonst erreichen wir nichts. Aber Ambitionen können auch zu viel sein. Unsere Energie und unsere Willensstärke sind nämlich beschränkt. Die einen haben mehr, die anderen weniger. Aber keiner hat unbegrenzte Reserven.
Wenn zu viele Vorsätze miteinander konkurrieren, blockieren sie sich gegenseitig. Sobald wir die Kraft aufbringen, eine Ambition zu verfolgen, nehmen wir uns damit Energie für andere. Wer im Beruf viele Aufgaben zu bewältigen hat, lässt andere Vorsätze schneller schleifen. Dabei freilich kann das Leben aus der Balance geraten – wenn wenig Aufmerksamkeit und wenig Kraft zum Beispiel für Partnerschaft und/oder Familie bleiben. Deshalb ist es ratsam, abzuwägen, was persönlich am wichtigsten ist. Jeder muss für sich angemessene Prioritäten setzen und darf nicht alles auf einmal wollen.
Unnütze Appelle
Es hilft wenig, an die eigene Disziplin zu appellieren. Es nutzt nichts, sich zu geißeln, wenn die eigenen Ansprüche nicht erfüllbar sind. Dann müssen wir unsere Ansprüche korrigieren. Wir brauchen eine gute Selbsteinschätzung darüber, was wir leisten können. In unserem Arbeitsumfeld sind wir häufig mit der Erwartung konfrontiert, stets noch mehr zu leisten, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, mehr Verantwortung zu tragen. Das geht nur bedingt. Irgendwann stößt jeder an seine Grenzen – was Vorgesetzte, die Aufgaben loswerden wollen und delegieren müssen, oft nicht einsehen wollen. Hilfreich ist es, zu verstehen, wie wir mit unserer Willensstärke gut haushalten und wie wir sie sukzessive vergrößern können.
Energiezufuhr richtig steuern
In einem Unternehmen, in dem ich immer wieder bin und in dem sehr viel und sehr konzentriert gearbeitet wird, stehen auf den Tischen in den Besprechungszimmern stets Schalen mit Keksen und Schokolade. Am Vormittag wird davon wenig gegessen. Am Nachmittag putzen die Leute, die dort zu-sammenkommen, sie mit zunehmender Eile weg. Für Nachschub wird stets gesorgt. Ist das gut so?
Nach Stunden intensiver Belastung, oft ohne richtige Pause, sackt durch den hohen Energieverbrauch der Glukose(Blutzucker)-Spiegel ab – und damit lassen Willenskraft und Leistungsfähigkeit nach. Der Körper verlangt nach neuer Energiezufuhr. Mit Süß-Stoffen treiben wir den Blutzuckerpegel rasch nach oben, daher der eilige Griff zu Keksen, Schokolade oder putsch-Brause. So steigern wir unser Beharrungsvermögen. Ohne Glukose keine Willenskraft. Die Biologie kennt kein Erbarmen. Wer sich die Zuckerzufuhr verabreicht, hält seine Willenskraft, kann ausdauernder arbeiten und bleibt beharrlicher, wenn es gilt, kniffelige Aufgaben zu lösen.
Wer jedoch Süßes – ob in Schalen oder Dosen direkt vor seiner Nase stehen hat und sich zwingen muss, nicht zuzugreifen, verbraucht Willenskraft, die ihm später für andere Aufgaben fehlt. Wissenschaftliche Studien zeigen: Wer gegen süße Versuchungen ankämpft, gibt schneller auf als jemand, der ihnen nicht widerstehen muss. Glukosemangel mindert Disziplin und Selbstkontrolle. Viele erliegen solchen Versuchungen, obwohl sie wissen, dass Zucker dick macht und der Energiepegel durch Zucker (oft kombiniert mit Coffein) so schnell zusammensackt, wie sie ihn hochschießen – und sie deshalb dazu neigen, noch mehr von dem Stoff zu konsumieren. Gescheiter wäre es, Obst oder Gemüse zu essen, das versorgt uns anhaltender mit Energie. Was viele davon abhält: Die Wirkung setzt nicht so rasant ein.
Willensstärke erschlafen
Schlafmangel erhöht den Glukosebedarf. Wer nicht ausreichend schläft, reduziert seine Willenskraft. Die Unterversorgung mit Glukose ist auf Dauer nicht zu kompensieren. Wer für große Herausforderungen viel Kraft aufwenden muss, dem fehlt schnell die Energie für Aufgaben, die nachgeordnet oder nicht so wichtig erscheinen. Versuche zeigen: Übermüdete Menschen beantworten weniger Telefonanrufe, waschen sich weniger gründlich, wechseln seltener die Unterwäsche, halten zu Hause weniger Ordnung und geben eher den Sport auf. Sie haben schneller schlechte Laune, sind insge-samt gereizter, verschlafen häufiger, neigen eher dazu, mutlos und ängstlich zu reagieren. Sie erliegen leichter spontanen Versuchungen, so geben sie etwa mehr Geld für unsinnige Dinge aus. Wer gegen solche Versuchungen zunächst erfolgreich ankämpft, erliegt ihnen bei nächster Gelegenheit umso schneller.
Dauernder Stress raubt Willenskraft
Wer für Anstrengungen belohnt wird, kann ungeahnte Energiereserven mobilisieren. Wird die Belohnung bei Erreichung des Zieles jedoch verwehrt, weil etwa der Chef noch eine Forderung draufsattelt, kollabiert der Energiehaushalt rasch. Raubbau am eigenen Energiehaushalt betreibt, wer sich andauernd zu viele Aufgaben auflädt und sich so in chronischen Stress treibt. Stress erleben wir immer wieder. Er kann sogar stimulierend sein. Zu einem veritablen Problem gerät er allerdings, wenn wir ständig Höchstleistungen von uns erwarten. Höchstleistungen können wir in gewissen Phasen erbringen, aber eben nicht permanent. Menschen, die das nicht begreifen, manövrieren sich sukzessive in die Insuffizienz. Jeder Spitzensportler weiß das.
Wer sich im Job ständig zusammenreißen und immer wieder hochreißen muss, dem fehlt schneller die Kraft, um Anforderungen zu Hause zu bewältigen – im Beziehungsleben oder mit den Kindern. Gute Gefühle sind weniger intensiv und haben kürzeren Bestand. Chronisch Gestresste werden in ihrem normalen Alltag „störungsanfällig. Sie sind schnell ungeduldig und gereizt. Ärger schaukelt sich schneller hoch und macht sich ungehemmter Luft – schon wenn Dinge schiefgehen, die man, gelassen betrachtet, als belanglos bezeichnen würde.
Wer erschöpft ist, lässt sich leichter von Emotionen anderer anstecken. Er wird zum Beispiel leichter traurig oder wütend. Begierden, Gelüste und Sehnsüchte nehmen dagegen rasant zu, zum Beispiel nach Sex, Kaffee, Junkfood, Zigaretten oder Alkohol, und lassen sich schwerer eindämmen.
Die Leiden der Unzufriedenen
Wer stets versucht, das Maximum herauszuholen, ohne es wirklich bestimmen zu können, wer mit einem nicht definierten Anspruchsniveau einem Phantom hinterherjagt, der reibt sich auf. Die Psychologie nennt solche Leute „Maximizer“ und rät dazu, sich besser als „Satisficer“ zu verstehen, als jemand, der sein Anspruchsniveau definiert und eine Entscheidung trifft, sobald in der Fülle von Objekten und Optionen das zu haben ist, was diesem Niveau entspricht. „Satisficer“ sind übrigens die glücklicheren Menschen. „Maximizer“ leiden beständig unter der sie aufreibenden Vorstellung, das Beste zu verpassen.
Auch für Arbeitsabläufe und Ergebnisse hilft es, ein Anspruchsniveau zu definieren. Damit lassen sich Ziele besser bestimmen, auch die dorthin führenden Etappenziele. Sie müssen in überschaubarer Zeit mit überschaubarem Einsatz zu erreichen sein. Mit realistischen Etappenzielen sind Aufgaben steter und besser zu bewältigen. Wir erleben uns als wirksam, wenn wir sie erreichen – so wie es unseren Ansprüchen entspricht: manchmal vielleicht ein bisschen weniger, aber manchmal auch mehr.
Planung hilft, uns zu fokussieren und Erfolge anzusteuern. Wer nicht plant, wie unerledigte Aufgaben anzugehen sind, belastet unnötig Gemüt und Gehirn. Das Gehirn denkt vor sich hin und beschwert uns mit ungelösten Problemen und der Sorge, sie nicht richtig in den Griff zu kriegen. Das kostet Kraft, Willenskraft. Wenn wir so viel zu erledigen haben, dass wir Aufgaben, die auf uns zukommen, nicht angehen können, tun wir gut daran, das nicht als Gedankenund Gemütslast ständig mit uns rumzuschleppen. Es hilft auch nicht, immer wieder (also endlose) To-do-Listen zu schreiben. Beschwerliche Gedanken können wir entsorgen, indem wir planen, wann wir die Aufgabe angehen müssen. So plagen wir uns nicht schon damit, wenn es noch gar nicht nötig ist. Und wir verpassen nicht den Zeitpunkt, zu dem wir uns der Aufgabe widmen müssen.
Sinnfragen
Wer Aufgaben verfolgt, weil sie ihm etwas wert sind, weil sie Sinn machen und zum Konzept des eigenen Lebens gehören, der bleibt mit mehr Ausdauer dran. Wer lediglich Anweisungen folgt, tut das nicht. Darin liegt auch ein Leistungsdefizit von Unternehmen begründet, in denen nach dem Prinzip „Kommando und Kontrolle“ geführt wird und das Management Mitarbeitern keine Ziele anbietet, die für sie persönlich Sinn machen.
Sich zu vergegenwärtigen, was man erreicht hat, erhöht die Selbstzufriedenheit – und das ist auch gut so. Allerdings: Zu betrachten, was man noch nicht erreicht hat, stärkt den Antrieb, ambitioniertere Ziele zu verfolgen. Bewusste Perspektivenwechsel schützen vor Über-Ambition und vor Selbstzufriedenheit, die sich als Entwicklungsbremse entpuppen kann.
Mitarbeitertragenamwirksamsten zu Unternehmenszielen bei, wenn man sie bei ihren Tätigkeiten eigene Ziele verfolgen lässt. Wenn sie verstehen, welchen Beitrag sie zu einem Unternehmensziel leisten, und sie dieses übergeordnete Ziel für sinnvoll halten, setzen sie sich stärker ein. Ein solches Ziel ist aber niemals „mehr Umsatz“, „mehr Gewinn“ oder ein „höherer Aktienkurs“. Sinn ergibt sich nur aus der Sinnhaftigkeit der Produkte oder Dienstleistungen, die ein Unternehmen anbietet. Google macht jede Menge Gewinn. Aber der deklarierte Zweck des Unternehmens ist es, ganz ohne Bescheidenheit, die Welt besser zu machen. Das finden Google-Mitarbeiter klasse.
Tipps und Leitideen
Können wir Willensstärke stärken? Das wäre doch ein lohnenswertes Coaching-Ziel: Willensstärke aufzubauen. Es reicht jedoch nicht, sich vorzunehmen, den Willen zu stärken. Autosuggestion, der Versuch, sich selbst einzureden, man könne doch, was man tatsächlich nicht kann, ist ein sinnloses Unterfangen. Willensstärke können wir nur durch beharrliches Training aufbauen – ähnlich wie unsere Muskeln. Wir müssen uns Aufgaben setzen, die wir bewältigen können, und es zu unserer Routine machen, sie zu bewältigen.
Was für uns Routine ist, verlangt weit weniger Anstrengung. Beispiel Sport: Wer regelmäßig trainiert, muss sich zum Training nicht mehr quälen. Vielmehr entsteht ein Bedürfnis nach Sport, das uns Antrieb und Kraft gibt. Es kommt darauf an, zu verstehen, was der richtige Einstieg und das angemessene Pensum sein können, um Routinen zu entwickeln. Mit der Zeit können wir das Pensum erhöhen, das kostet dann nur ein bisschen mehr Anstrengung. Mit immer anspruchsvolleren Routinen steigern wir kontinuierlich unsere Willensstärke. So viel Willensstärke muss freilich aufgebracht werden: Sport als festen Termin in den Wochenablauf einplanen; beginnend mit einem Programm, das den jeweiligen körperlichen Fähigkeiten und der Fitness entspricht; das Programm erst anspruchsvoller gestalten, wenn eine Trainingsroutine etabliert und zur Gewohnheit geworden ist, wenn sie weniger Selbstkontrolle und Willensstärke erfordert. Tatsächlich können wir Willensstärke mit einer Vielzahl von Routinen aufbauen: durch Meditation oderYoga;esgingeauch,wennwiruns angewöhnen, regelmäßig eine gewisse Zeit lang gerade zu sitzen.
Ambitioniert bleiben
Große Ambitionen sollten wir nicht aufgeben. Visionen, Zukunftsbilder leiten unser Handeln an, geben uns Zuversicht, Antrieb und Ausdauer. Aber wir sollten uns nicht zu viel zu schnell oder vornehmen. Willenskraft müssen wir fokussieren, und wir müssen uns Gelegenheit geben, sie zu erneuern, indem wir uns für kleine und große Erfolge belohnen – das nämlich gibt uns neue Kraft – und indem wir uns immer wieder ausreichende Erholungsphasen gönnen. Die müssen wir einplanen. Wer Grenzen persönlicher Willenskraft ignoriert, scheitert schnell an zu vielen Aufgaben oder ist zumindest viel schlechter, als es sein Potenzial zulassen würde.