Die allgemeinen Vorurteile gegenüber Psychopharmaka scheinen nach wie vor einzementiert zu sein. Angesichts der heute zur Verfügung stehenden weitgehend optimierten Substanzen besteht dazu kein Grund mehr, meinen Experten, doch sie wissen auch, dass noch viel zu tun bleibt, um das Stigma der Psychopharmaka zu mildern.
Psychische Erkrankungen und Störungen des seelischen Wohlbefindens sind verantwortlich für 20 bis 25 Prozent der ,,burden of diseases” in der Europäischen Union. Dennoch: Das Stigma, das diesen Erkrankungen, den davon Betroffenen, ihren Behandlern und deren Methoden anhaftet, ist nicht nur ungebrochen, sondern die diesbezüglichen Ressentiments sind laut neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen heute sogar vielleicht schlimmer als je zuvor. Sie betreffen im Besonderen auch die Medikamentengruppe der Psychopharmaka, die nach wie vor im Ruf stehen, abhängig zu machen, die Persönlichkeit zu verändern, nur dazu zu dienen, Patienten ruhig zu stellen oder aber gar nicht zu wirken und so weiter.
Psychoklischees mit langer Tradition. Die Frage ist, woher diese Vorurteile kommen, und die Suche nach der Antwort führt unter anderem prominent zur medialen Darstellung von Psychiatrie, Psychiatern und deren Patienten, die übrigens eine sehr lange Tradition hat. Schon in der Stummfilmzeit gab es kurze Hol lywood Filmchen zu dieser Thematik, in denen beispielsweise Psychiater-Klischees, die bis heute überdauern, vor einem hochinteressierten Publikum gezeigt wurden. Da gibt es den liebenswerten, etwas schrulligen und lächerlichen, doch sehr bemühten Seelendoktor, andererseits den,,verrückten” Wissenschaftler, der seine Patienten ausbeutet oder ihre Krankheit böswillig erst erzeugt, und es gibt den ,,idealen” Heiler mit nahezu übermenschlichen Kräften, der Garant für Hilfe und Heilung repräsentiert.
Das ,,Kuckucksnest” und seine Wirkung
Diese Filme fanden großen Anklang, die Tradition lief also weiter und führte in den 1970er Jahren zum Siegeszug eines Films von Milos Forman mit Jack Nicholson in der Hauptrolle, der 1975 nicht nur alle fünf Hauptoscars abräumte, sondern tatsächlich Geschichte geschrieben hat und die allgemeine Meinung über,,die Psychiatrie” bis heute prägt – Sie wissen es längst: ,,Einer flog über das Kuckucksnest” ist der Streifen, von dem die Rede ist, und mit diesem Film wurden bis heute auch Vorurteile über die Behandlung von psychiatrischen Patienten mit Elektroschock und Medikamenten, die Gefährdete Patienten-Adhärenz. Tatsächlich ist die allgemeine Haltung gegenüber Psychopharmaka eben auch heute noch mehr als ,,kritisch”, während die medikamentöse Behandlung in anderen medizinischen Disziplinen relativ hohe Akzeptanz findet und lnnovationen überwiegend positiv wahrgenommen werden.,,Betroffene und Angehörige bleiben davon naturgemäß nicht unberührt. Hier haben mediale Berichte einen beträchtlichen Einfluss auf die Meinungsbildung und können die für den Krankheitsverlauf oft entscheidende Adhärenz der Patienten im Hinblick auf die Therapie potenziell gefährden”, sagte etwa auch Prim.
Dr. Christa Rados von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin im LKH Villach bei einer im November 2013 abgehaltenen Pressekonferenz zum Thema ,,Psychopharmaka – Segen oder Fluch“.
Pauschale Verurteilungen
Fatal ist in diesem Zusammenhang auch die meist pauschale Beurteilung von Psychopharmaka, bei denen es sich in Wirklichkeit ja um ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Wirkstoffe handelt, deren lndikationen, Wirkweisen und Nutzen-Risiko-Profil so vielfältig sind wie das Einsatzgebiet im Rahmen der unterschiedlichen psychischen Störungen. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang sprach Univ.-Prof. Dr. Michael Freissmuth, Leiter des lnstituts für Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien, an.
,,Für Laien schwer zu verstehen ist etwa die verzögert einsetzende Wirkung von Psychopharmaka, die bei Depressionen und Schizophrenie zum Einsatz kommen. Das Gehirn ist aber ein plastisches Organ, in dem synaptische Kontakte ständig neu organisiert werden. Die Nervenzellen lernen mit dem neuen lnput fertig zu werden, sie werden reprogrammiert, weil sich ihre Genexpression ändert. Das dauert eben.” Hinzu kommt, dass es zum Beispiel bei Antidepressiva nicht nur einer gewissen Zeit bedarf, bis sie wirken, auch die Nebenwirkungen sind in den ersten Tagen am stärksten, verschwinden aber im Lauf der Zeit zumeist nahezu vollständig. Darüber müssen die Patienten aber auch ausreichend informiert werden.
Einnahme als Niederlage
Zu den Spezifika, mit denen Arzte bei der Verordnung von Psychopharmaka in der Praxis noch häufig konfrontiert sind, 9ehört die Tatsache, dass viele Menschen die Einnahme dieser Medikamente als Niederlage erleben. Dr. Georg Schönbeck, niedergelassener Facharzlfür Psychiatrie und Neurologie, betonte daher: ,,Es ist sehr wichtig, sich als Arzt die ZeiI zu nehmen, den Patienten zuzuhören, ihre Ängste ernst zu nehmen und sie ausreichend aufzuklären.” Der Facharzt wies auch darauf hin, dass es hier des Wissens und der Erfahrung, aber auch des nötigen Einfühlungsvermögens des behandelnden Facharztes bedarf. ,,Nur so können Ängste und Vorurteile sowie andere Hürden bei der Therapie psychiatrischer Erkrankungen gemeistert werden.”
Das Ende der Fahnenstange
Tatsächlich steht heute auch eine breite Palette von Arzneistoffen zur Verfügung, die es ermöglicht, die Therapie unter Berücksichtigung bestehender Begleit-erkrankungen zu optimieren. Freissmuth dazu: ,,ln vielen Bereichen ist die Selektivität der Substanzen soweit optimiert, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist: Was etwa Antidepressiva betrifft, so ist es kaum mehr möglich, noch selektivere Serotonin Wiederaufnahmehemmer zu erzeugen.”
Wenn sich die Frage nicht mehr stellt
Soweit so gut, doch es geht auch um die Frage, wie man Menschen dazu motiviert, in ihre psychische Gesundheit zu investieren, und wie Univ.-Doz. Dr. Margot Schmitz vom Institut für Psychosomatik erklärte, sei Zeit auf Arzt wie auf Patientenseite dabei unbedingt erforderlich, denn heute wisse man, dass rasche Erfolge auch noch unter so großem Druck sicher nicht zu erzielen seien. Zudem gebe es Fälle, in denen die Gabe von entsprechenden Psychopharmaka unabdingbar sei. Beispielsweise der,,Totalausfall” von Gefühlen bei einer Depression, in Paniksituationen oder beim ,,Ultragau” der Gefühlsüberflutung in der Schizophrenie.
Schmitz: ,,Die Frage, ob man Psychopharmaka ablehnt, stellt sich dann ganz einfach nicht. Nur mit Hilfe einer entsprechenden Medikation kann der,,Gefühlsstrom” wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. 0hne diese ,,Basisversorgung” der inneren Gefühlswelt gibt es keine Freiheit und keine Therapiefähigkeit durch die unterschiedlichen Angebote der Psychologie und Psychiatrie.”
Psychopharmaka: Mythen und ihre Widerlegung
Psychopharmaka machen abhängig.
Viele, heute zur Behandlung psychischer Erkrankungen eingesetzte Medikamente wie z.B. Antidepressiva machen nicht abhängig und können auch wenn sie über einen längeren Zeitraum eingenommen wurden, problemlos wieder abgesetzt werden. Lediglich bei Tranquilizern gibt es ein erwiesenes Gewöhnungsrisiko. Diese werden jedoch in der exakten psychiatrischen Behandlung üblicherweise nur kurzfristig zur Beherrschung von Akutsymptomen und nach ausführlicher Aufklärung des Patienten eingesetzt.
Psychopharmaka verändern die Persönlichkeit.
Die Persönlichkeit kann durch Psychopharmaka nicht beeinflusst werden. Vielmehr helfen Medikamente – z. B. Antidepressiva bei schweren depressiven Episoden – die persönlichen Stärken und Eigenheiten wieder leben zu können.
Psychopharmaka dienen nur dazu, Patienten ruhig zu stellen
Die meisten Psychopharmaka wirken nicht sedierend. Lediglich bei bestimmten Medikamenten ist eine dämpfende Wirkung gegeben, die in diesen Fällen auch erwünscht ist – z.B. bei der Behandlung von Angstzuständen, Schlafstörungen oder Erregungszuständen, wobei es durch die beruhigende Wirkung zum Abklingen quälender Symptome kommt.
Einmal Psychopharmaka, immer Psychopharmaka
Behandlungen psychischer Erkrankungen erfordern meist einen mehrmonatigen Behandlungszeitraum. Auch Dauertherapien zur Rückfallverhütung können bei schweren Erkrankungen indiziert sein. ln der somatischen Medizin ist eine langfristige Therapie bzw. Dauermedikation z. B. bei Bluthochdruck oder Diabetes mellitus eine selbstverständliche Praxis. Dies sollte daher auch bei vergleichbarer
Chronizität psychiatrischer Diagnosen anerkannt werden.
Psychopharmaka wirken nicht Studienergebnisse belegen, dass die Wirkstärken der meisten Psychopharmaka den Wirkstärken, die beispielsweise in der lnneren Medizin gegeben sind, zumindest gleichwertig sind. Psychopharmaka behandeln nur Symptome, Heilung ist nur durch Psychotherapie möglich. Es ist vielfach erwiesen, dass eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Psychotherapie den besten Effekt erzielt. Bei schweren Krankheitsbildern ist eine Psychotherapie auf Grund der beeinträchtigenden Akutsymptome vorerst oft nicht möglich. ln diesen Fällen kann durch pharmakologische Vorbehandlung eine Besserung erzielt werden, die die Voraussetzung für den weiteren psychotherapeutischen Zugang darstellt. Eine effektive Therapie verbindet heute Psychopharmaka UND Psychotherapie – jedes zu seiner Zeit. nicht möglich. ln diesen Fällen kann durch pharmakologische Vorbehandlung eine Besserung erzielt werden, die die Voraussetzung für den weiteren psychotherapeutischen Zugang darstellt.
Eine effektive Therapie verbindet heute Psychopharmaka UND Psychotherapie – jedes zu seiner Zeit.