Deutschlands Kicker als Vorbild für Team-Erfolg, effektives Management und gutes Miteinander
„La Mannschaft“ – das Slogan und Programm. Für Frankreich. Für die EM. Ja, überhaupt. Es verkündet Selbstbewusstsein. Und Selbstverständnis. Der Begriff bringt ein Konzept auf den Punkt. Er transportiert die zentrale Idee in einem Wort: Große Erfolge sind nur durch beharrliche Teamarbeit möglich! Als Ergebnis von Zusammenarbeit und Zusammenhalt!
Das ist die Kern-Botschaft. Sie soll nicht nur für den Fußball gelten, sondern für das Leben insgesamt. Für die Wirtschaft erst recht.
Das Unternehmen „Deutsche Nationalmannschaft“ gilt als Vorbild für modernes Miteinander und modernes Management. Die Harvard Business School hat ihr soeben eine ihrer berühmten „case studies“ gewidmet. Titel: „Die Mannschaft“. Eine Analyse der Faktoren, die aus einem Team „ohne Superstars “ einen strahlenden Sieger gemacht hat, dem die (Fußball)Welt zutraut, jeden bezwingen zu können. Auch wieder in dem nun anstehenden Turnier.
In Frankreich tauchte der Begriff „La Mannschaft“ schon einmal während der WM 1982 auf, als die Franzosen nach einer 3:1-Führung gegen die Deutschen im Halbfinale noch verloren. Allerdings gerierten die Germanen sich als brutale Kampftruppe. Ihr Torwart Toni Schumacher sprang den angreifenden Patrick Battiston mit ausgestreckten Fuß an, ohne jeden Versuch den Ball zu spielen, traf ihn mitten im Gesicht, schlug ihm die Schneidezähne aus. Während er Franzose vom Platz getragen werden musste, lehnte Schumacher selbstzufrieden am Posten und kaute Kaugummi. Sein Verhalten gehört zu den brutalsten Angriffen im Fußball. Grässlich. Hässlich.
Beschämend. „Ein Verbrechen“, kommentierte die BBC.
Die Deutschen galten international als „Rumpelfüße“, die sich martialisch durch Abwehrkette walzten und gegnerische Angreifer nieder-kartätschten. Die englische Presse nannte die Kampf-Truppe sarkastisch „German Panzer“.
Mittlerweile haben die Briten, wie alle anderen, ihre Ansichten geändert. Die Londoner Presse nennt das deutsche Nationalteam respektvoll „The Mannschaft“. Weil die Deutschen fair spielen und sie gute Resultat mit einer sehr anschaulichen und oft sogar eleganten Spielweise liefern. Außerdem stellt das Team kulturelle Vielfalt dar. Es steht für eine offene Gesellschaft und für Gemeinschaft. „Wir stehen für eine Entwicklung in unserer Gesellschaft“, meint Team-Manager Oliver Bierhoff. „Wir legen Wert auf soziale Kompetenzen, auf Kreativität, Mitgefühl und Demut“. Spieler singen vor Matches die deutsche Nationalhymne. Aber nicht alle. Es besteht kein Zwang. Und ein Schlachtruf wie „immer wieder, immer wieder Deutschland“ wäre nach ihrem patriotischen Selbstverständnis zu nationalistisch.
„Wir sind selbstbewusst, aber nicht überheblich“, verkündet Jogi Löw. Am deutschen Wesen soll nicht die Welt genesen. Das ist vorbei. Die deutsche Presse gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn sie über die Erfolge und die Wirkung des DFB-Teams schreibt. „Die Mannschaft“, orakelte die FAZ, sei „mehr als ein Team“. Da beginnt schon eine bedenkliche Mystifizierung.
Die Analysten von Harvard erkennen nüchterner eine jahrelange Entwicklung auf Funktionalität mit dem „Fokus auf Einheit des Teams“, die begonnen hat mit Jürgen Klinsmann als Head-Coach. Mit einer persönlichen Wertschätzung für jeden Einzelnen. „Vom ersten Tag an“, wie es in der Fallstudie heißt. Er sorgte sich nicht nur um bessere körperliche Fitness, sondern auch um eine neue mentale Stärke und schaffte, so die Analyse, eine „Performance-Kultur“. Klinsmann fungierte als Erneuerer, Motivator und Inspirator. Jögi Löw, damals Klinsmanns Assistent, steuerte Strategie und Taktik bei und avancierte zum Ausbilder und Übungsleiter.
Deutschland bringt Top-Spieler mit individueller Klasse hervor. Das Land verfügt aber nicht über Superstars wie Ronaldo, Messi oder Neymar. Solche Spieler, räumt Löw ein, fehlen den Deutschen. „Unsere Mannschaft ist eine Kombinatsmaschine“. Ihr fehlten die unberechenbaren Künstler am Ball, die Gegner immer wieder überraschen, im Spiel Mann-gegen-Mann, auf engstem Raum. Von solchen Talenten träumt jeder Trainer und jeder Fußballfan. Allerdings: Trainer (und Chefs in Betrieben) erliegen leicht der Verführung, sich an ihre Stars zu klammern das Spielkonzept zu sehr nach herausragenden Individualisten auszurichten – und so kollektive Möglichkeiten nicht optimal auszunutzen. Superstars sind oft auch Super-Egos. Sehen vornehmlich sich, betrachten andere als Zulieferer und lassen sie nicht richtig zum Zuge kommen. Und dann ist das Team nicht so gut wie es sein könnte – selbst ohne den großen Star.
„Das Kollektiv ist wichtiger als jeder einzelne Spieler“, dozierte Löw als er den Kader für die EM 2016 vorstellte. Er betonte, es ginge „um mehr als gut Fußball spielen, es geht darum eine Einheit zu bilden, ein bedingungsloses Miteinander“. – Spieler müssen sich gegenseitig respektieren und wertschätzen – mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit ihren Begrenzungen und ihren verschiedenen Persönlichkeiten. Sie alle brauchen die Möglichkeit, ihre individuellen Stärken und Ambitionen zur Geltung zu bringen. Allerdings müssen sie erkennen, dass Erfolg nur durch funktionelles Miteinander möglich ist – durch Kooperation.
Erreichen kann letztlich keiner etwas alleine. Einzelne mögen versuchen, sich individuell in Szene zu setzen. Aber alleine können sie nichts gewinnen. Team-Erfolg verlangt, Fähigkeiten in den Dienst der Mannschaft zu stellen, das eigene Ego zu zügeln, andere nicht zu dominieren, nicht gegeneinander auszuspielen, zu sehen, was jeder zum Erfolg beitragen kann. Selbst, die, die nicht auf dem Platz stehen, sich aber bereithalten, um mit vollem Einsatz ihr Können aufzubieten, wenn es gefragt ist. Darauf müssen sich alle verlassen können. Das verlangt „auf der Bank“ großes Engagement und große Fähigkeit, mit persönlicher Enttäuschung und Frustrationen fertig zu werden. Dafür verdienen sie Wertschätzung. So gehören auch sie zur Mannschaft.
Fußball zeigt uns ein Paradox, das uns in jedem Team begegnen kann, in jedem Unternehmen, in jeder Branche: Individuelle Fähigkeiten müssen gefördert werden und brauchen Gelegenheit zur Entfaltung. Sie dürfen nicht in einschnürend in starre Abläufe gezwängt werden. Im Fußball zeigen sich individuelle Fähigkeiten oft in eins-zu-eins Situationen. Wenn ein Spieler mit exzellenter Technik, schnellen Dribblings, Körpertäuschungen, Übersteigern, mit Tempo gegnerische Spieler aussteigen lässt, wenn er Räume und Torchancen eröffnet. Doch die Chancen sind damit nicht automatisch seine Chancen. Er kann eine Situation geschaffen haben, in der andere sich günstiger positionieren konnten. Und dann muss er ihnen zuspielen – Assistent und nicht Vollstrecker sein. Individualität muss somit zur Geltung kommen und sich doch immer wieder dem Zweck der Mannschaft unterordnen. So wird sie integrierbar. Führung – im Fußball wie in Unternehmen – muss dieses Paradox akzeptieren und versuchen, eine Balance in dieser Polarität auszutarieren.
Große Könner können Spiele entscheiden. Und dennoch neigen wir dazu, ihnen einen größeren Anteil am Erfolg zuzuschreiben, als er ihnen tatsächlich gebührt. Keine Gesamtleistung ist die Leistung eines Einzelnen. Weder die eines Superstars, noch eines Super-Trainers, weder die eines Top-Ingenieurs, noch die eines brillanten CEOs. Gesamt-Erfolge – ob gemessen an Titel oder Dividenden – Einzelnen zuzuordnen, bezeichnet der Harvard-Business-School Professor Hackman als fundamentalen Zuordnungsfehler (als „fundamental attribution error“). Er hält Teams die Anerkennung ihrer Stärken vor. Der Fehler ist weit verbreitet, wird allerdings auch weidlich gepflegt – nicht zuletzt in den Medien, die Erfolge gerne personalisieren und damit (sträflich) individualisieren.
Das ist ja das paradoxe: Dass persönlicher Erfolg immer auf Kooperation beruht, also die Leistung und Zuarbeit andere voraussetzt. Damit Kooperation zielgerichtet gelingt, muss es freilich ein Konzept geben. Jögi Löw würde sagen: „eine Philosophie“. Harvard nennt es kategorisch „Strategie“. Damit wird festgelegt, wie sich eine Mannschaft/ein Unternehmen aufstellen will, wie es sich durchsetzen und behaupten möchte in ihrem/seinem jeweiligen Umfeld.
Strategie besteht immer aus einem Set von Entscheidungen. Die einzelnen Maßnahmen müssen zusammenpassen. Sie sind nicht nur eine Addition einzelner Aktivitäten. Sie müssen aufeinander abgestimmt und konsistent sein, ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Harvard-Strategen nennen das „fit“. Ebenso wichtig, wie die Entscheidung, was zu tun ist, sind die Entscheidungen, was nicht zu tun ist. Das mag banal klingen. Tatsächlich werden solche Entscheidungen aber oft unterlassen. Sie verlangen immer „trade-offs“, bewusst in Kauf genommene Abstriche, wie Strategie-Guru Michael Porter argumentiert. – Unternehmen, die auf hohe Qualität setzen, können mit Produkten und Services nicht billig sein. Billige Ware liefert kein high-end. Wer im Fußball aggressives Pressing und schnelles Umschalten spielen lässt (wie Jürgen Klopp, früher mit Dortmund, heute mit Liverpool), nimmt filigranen Techniker viele Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten optimal zur Geltung zu bringen – mit rasanten Läufen und intelligenter Spielgestaltung. Anders ist der sogenannte „Ballbesitz“-Fußball, bei dem weniger gerannt, der Ball mehr kontrolliert, genauer gepasst und das Spiel überlegter aufgebaut und der Raum gezielter geöffnet wird. Diese Variante bevorzugen (jetzt in Dortmund) Thomas Tuchel, Jögi Löw oder Pep Guardiola.
Was heißt das? Dass Sieg oder Niederlage im Fußball, ebenso der Aufstieg oder Abstieg von Unternehmen eben nicht allein von einzelnen Leistungen und Individualisten abhängen, auch nicht von Kooperation und Zusammenhalt an sich, sondern funktioneller Zusammenarbeit, die sich bestimmt aus Strategie und Taktik, die angemessen sein muss für die jeweilige Herausforderung.
Jeder einzelne muss seine Rolle, seine Funktion im Kontext verstehen und wahrnehmen. Nur dann kann er effektiv zum Gesamterfolg beitragen. Das ist allerdings heutzutage deshalb nicht (mehr) so einfach, weil Fußball (ebenso wie unternehmerische Tätigkeit) ein sehr komplexes Geschäft geworden ist. In Top-Teams hat keiner mehr nur eine Rolle oder eine Funktion. Mitarbeiter und Führungskräfte in Unternehmen arbeiten zunehmend abteilungsübergreifend, kooperieren in unterschiedlichen Teams, tragen wechselhafte Verantwortung, bewegen sich durch Matrix-Strukturen und haben mit mehreren Vorgesetzten zu tun. Alles ist viel weniger beständig, viel mehr in Fluss.
Fußballer gehen mit einer bestimmten Zuordnung auf den Platz – etwa als linker Verteidiger, Mittelfeldspieler, Torwart oder Sturmspitze. Aber mit moderner Strategie und Taktik wandelt sich der Verteidiger immer wieder zum Außenstürmer, der Mittelfeldspieler stößt vor in die Stürmerposition, die Sturmspitze zieht sich zurück, als sogenannte „falsche neun“, um dann doch immer wieder vorzupreschen, der Torwart agiert, bei hoch stehender Abwehr als letzter Mann, als sogenannter „Libero“. Das ganze Team verschiebt sich immer wieder, je nach Situation, in neuer Anordnung auf dem Platz und kann das System während des Spiels mehrfach ändern, etwa die Verteidigung stärken, von einer dreier Kette umstellen auf eine fünfer Abwehr oder es kann die Offensive erhöhen – mit Folgen für alle Spieler.
Komplexe Spielweisen erfordern Spieler mit sehr unterschiedlichen und variabel abrufbaren technischen Fähigkeiten. Sie brauchen höhere Intelligenz und mehr Flexibilität. Es reicht nicht mehr nur einen Kapitän, der das Team antreibt, sondern jede Mannschaft braucht eine größere Zahl von Führungsspieler, die Verantwortung für die Umsetzung der Strategie übernehmen, sich gegenseitig unterstützen, puschen, sich gegenseitig in die Verantwortung nehmen, sich mitunter auch ermahnen – die für gescheite Koordination, festen Zusammenhalt und einen hohen Energielevel sorgen. Gute Teams verstehen Führung nicht als festgefügtes hierarchisches Konzept, das Macht und Status zuordnet und festschreibt. Sie entsprechen vielmehr einer Vorstellung, die Rosbath Moss Kanter, Leadership Professorin an der HBS, als heute gefordertes Leadership-Konzept sieht: Jeder, der dazu beitragen kann, dass Team auf dem Weg voranzubringen, seinen Zweck zu erfüllen und seine Ziele zu erreichen, soll das tun und so eine Führung ausüben – ohne dazu einen formalen Auftrag zu erhalten oder einen Titel zu brauchen!
Es geht also um vollen Einsatz jedes Einzelnen. Sich auf Kosten anderer einen Lenz zu machen, persönliche Leistung zurückzuhalten (in der Psychologie „social loafing“ genannt), das geschieht in Teams immer. Auf naturwüchsige Weise. Es entspricht verbreiteter menschlicher Mentalität. In Top-Teams darf das aber nicht geben. Da müssen die Spieler selbst gegensteuern und es verhindern. Es ist nämlich nicht von oben zu verordnen. Von jedem Einzelnen ist ein Höchstmaß an „Commitment“ verlangt.
Aufgabe von Führung – von Team-Chefs in allen Bereichen und auf allen Ebenen – ist, die Strategie zu kommunizieren und die Bedingungen für funktionelle Kooperation und gutes Miteinander zu schaffen. Löw und Co. betonen immer wieder, wie wichtig soziale Kompetenzen und Kommunikation für „La Mannschaft“ sind. Kommunikation meint nicht, viel miteinander zu reden, sondern gut miteinander zu reden – so, dass Verständigung erzielt wird. Das gelingt nicht dadurch, dass einer lange Vorträge hält und Zuhörer stumm dasitzen. Es gelingt nur durch Einfachheit, Klarheit, Kürze, Prägnanz und durch ständige Rückversicherung, ob tatsächlich gehört wurde, was gesagt werden wollte. Ohne solche Feedback-Loops entsteht keine gemeinsame, koordinierte, zielgerichtete Aktion – es entsteht keine Mannschaft.
Den deutschen Kickern scheint das recht klar geworden zu sein. Selbst die Stars nehmen sich zurück. Der Weltklasse-Kicker Metzut Özil (Arsenal London) betont: „Wir sind füreinander da. Wir stehen für Erfolg. Was uns als Mannschaft auszeichnet ist unser Zusammenhalt“. Toni Kroos (Real Madrid) sekundiert: „Wir sind eine Mannschaft. Das ist unser Markenzeichen. Weil wir als eine Mannschaft auftreten, haben wir die WM 2014 gewonnen.“ Und Benedikt Höwedes ergänzt: „Dass wir mittlerweile in aller Welt als „Die Mannschaft“ bezeichnet werden, ist schon etwas Besonderes. Und jetzt will „La Mannschaft“ den Titel in Frankreich holen.