Opportunisten und Illusionskünstler

Spiegel-Essay-1

Warum der Grat zwischen Macht und Machtmissbrauch so schmal ist

Für die meisten Bürger ist es eine ausgemachte Sache. Sie halten Politiker und Wirtschaftsbosse für korrupt. Und in der Tat finden sie für diese Einschätzung fortlaufend neue Hinweise.
Stefan Mappus wollte sich als Ministerpräsident mit einem großen Coup an der Macht halten. Deshalb pokerte er um den Rückkauf von Anteilen am Energiekonzern EnBW, unterließ die vorgeschriebene Wirtschaftlichkeitsprüfung und verzockte über 800 Millionen Euro Steuergelder. Bundespräsident Christian Wulff musste zurücktreten, als herauskam, dass er Sonderkredite zur Finanzierung seines Privathauses angenommen hatte, zuerst von einem Freund, dann von einer Bank, und dass er sich von einem Unternehmer in Luxusunterkünfte einladen ließ, für dessen geschäftliche Ambitionen er sich eingesetzt hatte. Helmut Kohl füllte durch Zuwendungen anonymer Spender die schwarzen Parteikassen mit Millionen. Sie verschafften ihm das ersehnte Bimbes, mit dem er sich in der Partei Loyalität erkaufte. Bis heute weigert sich der Altkanzler, seine Finanziers zu benennen.
Die moderne Variante der Geldbeschaffung heißt für Parteien „Sponsoring“. Damit kassieren sie Millionen. Die zahlenden Unternehmen erkaufen sich auf Parteiveranstaltungen Zugang zur Macht. Die Kosten für diese Nähe zur Politik können sie von der Steuer absetzen. Öffentlich beschwören Wirtschaftsbosse Anstand. Doch Bestechung ist gängige Praxis. Konzerne wie Daimler, Ferrostaal, MAN oder Siemens schmierten über Jahrzehnte hinweg Politiker, Beamte oder Staatsfirmen im Ausland, um sich lukrative Aufträge zu sichern. In Griechenland war diese Art politischer Landschaftspflege besonders beliebt. So förderten auch deutsche Firmen ein korruptes System, das den griechischen Staat in die Pleite zog und für das nun Europas Steuerzahler aufkommen müssen.
„Macht führt zu Korruption, und absolute Macht korrumpiert völlig“, räsonierte der englische Historiker und Politiker Lord Acton im 19. Jahrhundert. Zwar gibt es Mächtige, die Gutes tun, doch psychologische Studien bestätigen: Die Beziehung zwischen Macht und Machtmissbrauch ist eng. Macht verändert Menschen, auch die, die mit besten Absichten nach ihr greifen. Nicht alle in gleichem Maße, doch das ist die Tendenz: Mächtige setzen sich über moralische Bedenken leichter hinweg. Sie sind die besseren Lügner, geraten dabei weniger in innere Konflikte und empfinden keinen Stress. Wer über Macht verfügt, versucht eher andere zu manipulieren, um daraus persönlichen Nutzen zu ziehen. Mächtige werten Leistungen anderer schnell ab und schreiben sich selbst übergroße Anteile an Erfolgen zu. Sie betrachten ihre Mitmenschen bevorzugt als Objekte, um persönliche Interessen zu verfolgen.
Die eigene Meinung zählt für sie generell mehr als die Meinung anderer. Mächtige empfinden weniger Mitgefühl. Oft hören sie gar nicht richtig hin. Eigene Ansprüche und Bedürfnisse gelten rasch als selbstverständlich und genießen Vorrang. Beispiel: Wolfgang Schäuble. Der Bundesfinanzminister metzelte seinen Sprecher Michael Offer auf einer Pressekonferenz lustvoll nieder. Bis heute empfindet Schäuble weder Schuld noch Reue. Ein Mächtiger, der strotzt vor Selbstgerechtigkeit. Gern spricht er von sich majestätisch – in der dritten Person.
Mächtige verfügen über ein feines Gespür, wer ihnen nützlich sein könnte. Sie achten bei solchen Personen genau darauf, was diese ihnen zu bieten haben. Ihnen gegenüber erhöhen Machtmenschen ihre Aufmerksamkeit. Die Adressaten ihrer Gunst glauben, es gehe um sie als Person und nicht um ein durch sie besser erreichbares Ziel. Das wahre Motiv erkennen sie oft erst, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Dann reagieren die Machthaber mit Aufmerksamkeitsentzug.

Wer Macht gewinnt, hat viel zu verteilen – Posten, Projekte, Privilegien.

Wer es einmal nach oben geschafft hat, will von der Macht meist nicht mehr lassen. Das Phänomen ist in allen Parteien zu beobachten, überall sehen wir jahrzehntelang dieselben Gesichter; sie werden nur grauer. Auch Piraten sind nicht immun gegen die Droge Macht. Kaum einem Politiker, der sie einmal inhaliert hat, gelingt der Ausstieg aus der Sucht. Viele von ihnen müssen zum Abschied gezwungen werden – und erleben ihn als herben Verlust an Bedeutung und Lebenssinn.
Angela Merkel erweist sich als äußerst machtgeschickt. Wir verdanken sie Helmut Kohl. Er adoptierte sie als „Mädchen“ und ließ sie aufsteigen, weil er glaubte, sie könne es nie ganz nach oben schaffen. Doch als Kohl an sich selbst scheiterte und Wolfgang Schäuble mit nach unten zog, avancierte Merkel zur CDU-Verlegenheitsvorsitzenden. Sie erkannte, dass sie bei einer Direktwahl keine Chance hätte, Kanzlerin zu werden. Sie ließ Edmund Stoiber den Vortritt und wartete, bis die Zeit gekommen war. Sie lernte, Düpierungen auszuhalten, Bündnisse zu schmieden und Konkurrenten bei passender Gelegenheit abzuservieren. Wie skrupellos sie Parteifreunde fallenlässt, die ihren Machterhalt gefährden, zeigte sie zuletzt bei Norbert Röttgen.
An der Kanzlerin ist aber auch zu beobachten, wie Macht zu Zuspruch führen kann. Macht nährt sich selbst. Ämter geben Aura. Status garantiert Bewunderung.
Macht macht nicht einsam. Im Gegenteil. Macht zieht an. In der Euro-Krise gelingt es Merkel immer wieder, sich als Wahrerin deutscher Interessen zu profilieren, weil sie sich bemüht, den Begehrlichkeiten anderer Staaten Grenzen zu setzen. Dafür wird sie von vielen ausländischen Politikern und Journalisten angefeindet. Das verstärkt ihren Nimbus daheim – obwohl Merkel nicht viel wirtschaftlichen Sachverstand besitzt, deklarierte Positionen oft wieder aufgibt, einen mitunter rasanten Schlingerkurs fährt und (wie die meisten anderen) nicht weiß, was zu einer wirklichen Lösung der Währungsund Finanzprobleme führen könnte.
Merkel okkupiert – machtbewusst wertevariabel und hemmungslos – Positionen aus unterschiedlichen politischen Lagern. Wie bei ihrem hastigen Ausstieg aus der Atomenergie. So gewinnt sie eine Popularität, von der die Sozialdemokraten sich weitgehend lähmen lassen und als Opposition aufgeben.
Nur Sigmar Gabriel lärmt, als erratischer Selbstvermarkter, mit unterschiedlichsten Forderungen. Er ruft zur „Bändigung“ der Banken auf. Damit spricht er vielen Bürgern aus der Seele. Dann redet er über eine gemeinsame Schuldenhaftung in Europa. Doch unklar bleibt, was Gabriel wirklich will und was sinnvoll und praktikabel sein könnte. Er verwirrt fast alle, auch in seiner Partei. Er will, so scheint es, vor allem auffallen. Eitel schmiedet er Parolen und taktet so seinen ganz persönlichen Wahlkampf ein, ohne ein durchdachtes politisches Konzept.
Für Politiker zählt das Image, das sie von sich kreieren. Wir sehen immer wieder, wie Politiker Ämter übernehmen, für die sie keine nachgewiesene Qualifikation haben. Ob ihre Versprechen bei Wählern verfangen, hängt von den Hoffnungen ab, die sie bei ihnen wecken. Erfolgreich sind Politiker als Illusionskünstler. Wie Karl-Theodor zu Guttenberg. Der inszenierte sich lange geschickt als zupackend, obwohl er zauderte, als intellektuell, obwohl er Phrasen drosch. Dumm für ihn, dass er als Plagiator überführt wurde.
Politik ist der Tummelplatz für machtambitionierte Opportunisten und Schaumschläger. Sympathie ist Trumpf. Wer sich bei Wählern beliebt macht, steigt auf. Opportunisten passen sich Wählerwünschen an, ihr Kernprogramm ist Populismus, nicht Problemlösung – auch wenn sie damit die Probleme, die sich vor ihnen auftürmen, noch größer machen. Sie behaupten einfach, alles im Griff zu haben.
Menschen scheuen, was ihnen Schmerzen bereitet. Selbst wenn durch den Aufschub notwendiger Maßnahmen die Ursachen fortbestehen und die Schmerzen mit der Zeit stärker werden müssen. Menschen erleben die Ankündigung von Einschränkungen als Bedrohung, den Aufschub als Erleichterung. Opportunistische Politik bedient genau diese Bedürfnisse und die damit verbundene Irrationalität.
Die meisten Politiker haben keine ernste Absicht, Schulden zu tilgen. Sie tun nur so. Sie mögen erklären, es mit dem Sparen ernst zu meinen, doch dann fällt ihnen wieder ein Grund ein, warum es damit nicht eilig sein soll. Der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg hat es auf den Punkt gebracht: Die Schuldenkrise, urteilt er, sei vor allem eine moralische Krise: „Es ist eine Folge der Verantwortungslosigkeit vor allem von Politikern. Man beschimpft die Banker, aber die Politiker haben seit fast dreißig Jahren überall in Europa über ihre Verhältnisse gewirtschaftet. Sie haben mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Die Politik trägt durch ihre Verantwortungslosigkeit die Hauptschuld an der heutigen Krise.“

Macht nährt sich selbst. Ämter geben Aura. Status garantiert Bewunderung.

Um zu reüssieren, müssen Politiker sich von ihren Konkurrenten markant unterscheiden. Sie bauschen Differenzen auf, reden gegeneinander statt miteinander, besonders vor Publikum. Um bestmögliche Problemlösungen geht es nicht mehr. Sie reflektieren nicht, was an Vorschlägen der anderen zu bedenken, zu würdigen, konstruktiv weiterzuentwickeln wäre. Sie beurteilen nicht nüchtern, was daran sinnvoll und vielleicht sogar besser sein könnte als an den eigenen Ideen. Und sie negieren, dass durch die kombinierte Kompetenz von Regierung und Opposition eine bessere Politik möglich wäre. Mit eitler Darstellungskonkurrenz vergeben sie die Chance, durch gemeinsames Nachdenken bessere Lösungen zu finden.
In der Wirtschaft lassen Management-Coaches für Problemlösungen und den Umgang mit Kontroversen eine konstruktivere Idee zirkulieren. Um zu möglichst guten Ergebnissen zu gelangen, ermuntern sie Diskutanten dazu, auf den Ideen des anderen „aufzubauen“. Dessen Beiträge sollen nicht als Vorlage missbraucht werden, sich selbst aufzuwerten und den anderen abzuwerten. Gerungen werden soll um kollektive Kompetenz statt um persönliches Profil. Damit gelangen sie oft zu Lösungen und Innovationen, die sie sich nie hätten vorstellen können. Voraussetzung freilich ist, dass sie ihr Ego im Zaum halten.
Journalisten verstehen sich als Kontrolleure der Macht. Sie üben dabei selber Macht aus. Sie bestimmen, welche Themen sie wie darstellen, welche sie ignorieren, wer sich womit öffentlich zu Wort meldet. Mächtige brauchen die Medien, um Meinung zu machen, und Medien suchen die Nähe zur Macht, um Informationen zu bekommen. Journalisten können Zugang zur Macht erlangen, solange sie der Macht gewogen bleiben. Anerkennung durch Macht schmeichelt. Damit steigern sie zugleich ihre persönliche Bedeutung und ihren Marktwert, und damit beginnt die Verführung, die kritische Distanz aufzugeben, die sie brauchen, um Macht zu kontrollieren. Kontrolle üben Journalisten nur aus, wenn sie Machtbeziehungen aufdecken und helfen, Sachthemen zu verstehen. Sonst tragen sie bei zur Verschleierung von Macht. Und zur Verdummung, wenn sie politische Kontroversen nicht mehr ergründen, sondern nur noch deren Protagonisten die öffentliche Arena für saftigen Schlagabtausch bereiten. So inszenieren sie – in einträchtiger Kollaboration – Machtkämpfe als verblödendes Unterhaltungsspektakel.

Schmitz, 58, lehrt Psychologie und Management an der Lauder Business School in Wien. Von dem ehemaligen Auslandskorrespondenten des ZDF erscheint in diesen Tagen das Buch „Psychologie der Macht“ (Kremayr&Scheriau-Verlag).