Univ.-Doz. Dr. Margot Schmitz ist Psychiaterin, Neurologin und Leiterin des Instituts für Psychosomatik in Wien. Die innenwelt sprach mit ihr über die kognitiven Symptome der Depression und die dadurch entstehende Orientierungslosigkeit im eigenen System und wie Routine, Struktur und adäquate therapeutische Unterstützung den Betroffenen helfen kann.
Wie kann man sich die kognitiven Symptome einer Depression vorstellen?
Während einer Depression ist es so, dass der Filter, über den jede Form von Aufmerksamkeit und Orientierung läuft, sozusagen verstopft ist. Weil unser limbisches System unterscheidet, ob etwas für uns wichtig ist, nicht wichtig, fröhlich, traurig oder ängstlich. Sobald dieser Filter nicht funktioniert, macht die Welt keinen Sinn mehr, und den Betroffenen wird es unmöglich, sich in ihrem Wissen zu orientieren. Eine Depression macht abwesend für alles, was man in der Minute entscheiden sollte, weil alles negativ ist und ein Einheitsbrei und ängstigend.
Wie entwickelt sich der Verlust der kognitiven Fähigkeiten?
Das ist unterschiedlich. Es gibt Depressionen, wo die kognitiven Leistungsfähigkeiten wie mit einem Klick weg sind, und es gibt diese berühmten Tagessschwankungen. Da machen die Leute am Abend normale Pläne, die sie aber in der Früh nicht durchführen können, und erst im Laufe des Tages wird das wieder besser.
Können den Betroffenen im Alltag Routinen und Strukturen helfen?
Ja, es gibt ja schon Berufe, die aus Routine bestehen, wo ich mich, auch wenn es mir heute nicht gut geht, erinnern kann, wie es gestern war, und wie ich es gestern erledigt habe, und egal, ob es mich interessiert oder nicht, erledige ich es wie am Tag zuvor. Dazu muss ich garnichts spüren. Und ich habe so eine Kundenfreundlichkeit drauf, die ich auch dann drauf habe, wenn es mir schlecht geht.
Wie sehr beeinträchtigen die kognitiven Störungen den Alltag der Betroffenen?
Die kognitiven Störungen beeinträchtigen den Alltag beträchtlich. Man muss auch sagen, dass es vielen Menschen sehr viel Angst macht, besonders weil sie befürchten, dass sie diese ihr Leben lang haben und langsam „verblöden“. Die meisten schaffen aber auch wirklich nichts, was Konzentration erfordert. So merken sie sich zum Beispiel in den Sprechstunden nichts, müssen alles aufschreiben oder wissen teilweise nicht mehr, wie sie ihre Medikamente einnehmen sollen. Geduld ist hier wirklich sehr wichtig – und das regelmäßige Wiederholen von Informationen.
Fällt dies den Betroffenen selbst auch auf?
Natürlich. Man sagt, es gibt einen Unterschied zwischen Depressiven und Dementen: Depressive haben Angst, dass sie sich nichts merken können und nichts leisten, erbringen aber objektiv betrachtet noch gute Leistungen, während Demente fröhlich und quietschfidel sind und ihr Umfeld beschuldigen, dass es sie für dumm hält. Das ist ein großer Unterschied.
Was ist bei der Therapie besonders wichtig?
Es gilt immer das Drei-Säulen-Modell: Eine Säule ist die Medikation, wenn zum Beispiel die Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigt ist, eine Säule ist Entspannung und Ausdauertraining und die dritte Säule ist Forschung nach Ursachen und dem Zustandekommen – was hat das Leben an Belastungen gebracht, dass es so ist, wie es ist?
Kann man die drei Säulen bei allen Patienten anwenden?
Wenn eine Depression einen klaren Entstehungshintergrund hat, dann werden sie mit Medikamenten nicht weit kommen und umgekehrt: Gibt es beispielsweise eine biologische Ursache, so werden sie mit Erklärungen und Ursachenforschung nicht weit kommen. Und manchmal hat man riesige Mühe mit Patienten, die eine vorgefasste Meinung haben, wie ihre Therapie aussehen muss. Zum Beispiel wenn vehement die Meinung vertreten wird, dass keine Medikamente eingenommen werden. Das gibt es immer wieder. Manche können sich den Luxusstandpunkt leisten und leiden halt dann grauenhaft, und anderen bleibt keine Wahl, weil sie sich sonst gar nicht zurechtfi nden. Die müssen dann den Therapieempfehlungen des Arztes Folge leisten. Das Um und Auf jeder Therapie ist aber, dass man sein Leben verändern kann, damit sich die Welt nicht mehr so leidvoll darstellt wie in dem Moment. Man lernt auch, wie man sich selbst besser helfen kann oder sich selbst beruhigen kann. Das ist sehr wichtig.
Erschweren die kognitiven Störungen nicht auch die Therapie?
Ja, wenn es zu schlimm ist, sind die Leute nicht therapiefähig. Sie sind zum Beispiel einer analytischen Therapieform nur dann zugänglich, wenn es ihnen nicht zu dramatisch schlecht geht. Das geht gar nicht anders. Wenn es jemandem so schlecht geht, dass er sich nichts merkt, wie soll man dann therapieren? Das Wichtigste ist in diesem Fall, den Patienten zu entlasten und zu stützen.
Haben Sie Tipps oder Anregungen für Betroffene?
Das Wichtigste ist, genau hinzuschauen und sich nicht vor der Diagnose zu fürchten. Es gibt einfach Krisen, die treten einmal im Leben auf. Da muss man sich nicht gleich fürchten, dass sie ein Leben lang dauern werden. Man kann Krisen überwinden und depressive Episoden hinter sich lassen. Und es ist ganz wichtig zu betonen: Eine Depression ist keinesfalls eine Charakterschwäche. Jeder anständige Mensch ist hoffentlich irgendwann einmal depressiv, weil sonst hat er irgendwas im Leben nicht verstanden. Allein den eigenen Anstand durchs Leben zu retten, muss depressiv machen.