Am Vormarsch Schätzungen zufolge sind rund 1,2 Millionen Österreicher psychisch krank – bei steigender Tendenz und hoher Dunkelziffer.
Gabi leidet an Burnout, Christoph ist depressiv, Michael schläft kaum noch und die siebenjährige Hanna muss wohl Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) haben – denn anders kann sich die Lehrerin die Konzentrationsschwäche der Kleinen schließlich nicht erklären. Psychische Erkrankungen sind am Vormarsch, Untersuchungen zufolge leidet rund jeder siebte Österreicher daran.
Nur eine Mode?
Genau wie in allen anderen Lebensbereichen, sind auch in der Medizin Trends zu beobachten. Krankheiten, die räumlich oder zeitlich begrenzt auftreten, werden oft abwertend und kritisch als „Modekrankheiten“ bezeichnet. Was im Mittelalter die Pest, während der Renaissance die Melancholie, in der Aufklärung die Syphilis und im frühen 20. Jahrhundert die Tuberkulose war, sind heute Burnout, Boreout und ADHS.
Gemeinsam haben diese Krankheiten, dass ihre Symptome unscharf definiert und schwer zu objektivieren sind. Diese Unschärfe ermöglicht es, eigene Symptome als mögliche Krankheiten zu interpretieren. Eine vermehrte mediale Präsenz bestimmter Krankheitsbilder schärft auch bei den Behandlern das Bewusstsein für deren Existenz, sie werden dadurch öfter diagnostiziert. Doch Vorsicht: Nur weil eine Erkrankung als „Modekrankheit“ bezeichnet wird, heißt das im Umkehrschluss aber noch nicht, dass der Leidensdruck der Betroffenen weniger ernst zu nehmen ist.
Teures Leid
Die Anzahl der Neuzugänge in die Invaliditätspension aufgrund psychischer Erkrankungen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten fast verdreifacht, rund 120 Millionen Euro werden pro Jahr für Psychopharmaka ausgegeben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erwartet für das Jahr 2030 sogar, dass global gesehen Depressionen vor Herzkrankheiten, Demenz und Alkoholismus auf Platz eins der häufigsten gesundheitlichen Einschränkungen der Bevölkerung stehen werden. In Österreich leiden 900.000 Menschen an einer psychischen Erkrankung, 840.000 davon werden mit Tabletten behandelt. Rechnet man die geschätzte Dunkelziffer von rund einem Drittel ein, so dürften in Österreich etwa 1,2 Millionen Menschen psychisch krank sein. Neben der persönlichen Belastung für die Betroffenen ist das auch eine Nagelprobe für unser Gesundheitssystem. Psychische Erkrankungen verursachen in Österreich jährlich volkswirtschaftliche Kosten von rund sieben Milliarden Euro.
Ursachensuche
Ob die Zahl psychisch Erkrankter tatsächlich zunimmt, oder einfach die Hemmschwelle, wegen dieser Leiden einen Spezialisten aufzusuchen, sinkt, kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden. Fest steht allerdings, dass der Informationsstand über psychische Erkrankungen gestiegen ist. Viele Menschen sind daher sensibilisiert und reagieren schneller auf etwaige Symptome.
Nicht zu vernachlässigen ist auch die Zahl der Altersdepressionen. Analog zur steigenden Lebenserwartung nimmt auch die Zahl der Altersdepressiven zu.
Im Gegensatz zu physischen Erkrankungen gibt es für psychische Leiden selten standardisierte Therapien, das hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass deren Ursachen vielfältig sind. Je nach Krankheitsbild muss der Behandler auch individuelle Behandlungsstrategien festlegen. Bei Depressionen besonders zielführend sind beispielsweise eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva, kombiniert mit einer langfristigen Psychotherapie. In vielen Fällen ist es wichtig auch das soziale Umfeld wie Arbeitsplatz, schulische Situation, Lebenspartner oder familiäres Umfeld in die Therapie mit einzubeziehen.
Text von Claudia Hilmbauer.
„Gelitten wurde schon immer“
Gibt es in Ihrer Praxis derzeit einen Trend zu beobachten? Mit welchem Verdacht kommen Patienten häufig zu Ihnen?
Schmitz: Viele Patienten kommen mit Selbstdiagnosen, vor allem Panikdiagnosen, Aufmerksamkeitsstörung und Demenzbefürchtungen sowie Burnout. Früher waren das eher Stress und Fatigue. Hat man einen Verdacht, ist es wichtig, dass man an den richtigen Experten gelangt. Es ist wie mit der Speisekarte im Restaurant: Der Vegetarier will auch nicht im Steakhaus landen. Wir sind ein Burnout-Center und haben uns darauf spezialisiert.
Woran liegt es, dass psychische Erkrankungen derart zunehmen?
Schmitz: Gelitten wurde schon immer. Aber die Arbeitsfähigkeit wird stärker gefordert. Einen Tag, an dem Sie nichts leisten können, können Sie sich als Arbeitnehmer nicht mehr leisten. Die Anforderungen an jeden sind härter, es gibt keine Schonposten mehr.
Kann man psychischen Erkrankungen irgendwie vorbeugen?
Schmitz: Ja, mit Genuss! Freude an der Arbeit, an Freunden, Pausen, gutes Essen, Sex, Neugier und Bewegung können enorm dazu beitragen!
Wie haben sich „Modeerkrankungen“ in den letzten Jahren entwickelt?
Schmitz: Was man früher „Managerkrankheit“ oder „Neurasthenie“ genannt hat, heißt jetzt Burnout oder Leistungsknick.
Wie sinnvoll sind Selbsttests in Zeitschriften oder im Internet?
Schmitz: Selbsttests sind Orientierung und Desorientierung zugleich. Ein kluger Kopf kann das richtig einordnen, ein Hypochonder oder Angsthase kann immer Krankheit und Angst bedienen. Jeder Test hat etwas Richtiges und Falsches zugleich, er kann Orientierung geben, dem Ergebnis sollte aber nur im Zusammenhang mit einer vernünftigen psychologischen und medizinischen Beurteilung Bedeutung zukommen.